Von Sewerobaikalsk bis Taischet:
ein Leben auf Schienen

„Ich heiße Galina Tkatschuk, komme aus Schimanowsk, das ist eine kleine Stadt an der chinesischen Grenze. Ich bin jetzt 54, arbeite seit 18 Jahren als „Prawadniza“ – Zugbegleiterin. Wir fahren meistens mit meiner Kollegin Walja zu zweit im Waggon. Bis Uljanowsk sind es sechs Tage Fahrt, und wir wechseln uns alle zwölf Stunden ab.
Normalerweise fährt der Zug bis Moskau, aber jetzt nur bis Uljanowsk, weil in der Hauptstadt gerade ohnehin so viel los ist mit all den Fußballfans.
Wir haben hier viele Wachtowiki an Bord, Leute, die in Jakutien oder im Amur-Gebiet in den Goldminen malochen, Straßen bauen oder an der Eisenbahnstrecke arbeiten. Die sind dort für ein paar Monate, dann haben sie einen Monat Pause. Mit denen gibt es immer Probleme, weil sie sich auf dem Weg nach Hause besaufen. Den ein oder anderen lassen wir von der Polizei abholen. Bis vor zwei Jahren brauchten wir dazu aber die Unterschriften von drei anderen Passagieren, die bestätigten, dass der Säufer sich schlecht benommen hat. Das war immer schwierig: Unsere Leute haben am Ende doch immer Mitleid mit solchen Menschen. Jetzt reicht es, wenn wir die Polizei rufen.“

"Sibirien - das ist für Moskau noch immer irgendwo da ganz hinten." Galina Tkatschuk

„Einerseits ist das Zugfahren in den letzten zwanzig Jahren zivilisierter geworden. Die Züge sind grundüberholt worden. Aber die Leute sind jetzt schwieriger. Die Sibirjaken, die Bewohner Sibiriens, sind ja noch etwas einfacher gestrickt. Aber die Westrussen hat schon die Zivilisation verdorben. Wenn die einsteigen und sehen, dass wir keine Klimaanlage haben, kein W-Lan, dass bei unseren Toiletten noch alles unten rausfällt, dass es keine Dusche gibt, machen sie einen Aufstand. Ich sage ihnen dann: Hier auf dem Ticket steht doch alles drauf, warum habt ihr nicht vorher draufgeschaut?
Und mal ehrlich: Was können wir dafür? In Moskau haben sie die Schnellzüge „Sapsan“ und zweistöckige Regionalbahnen. Und wir bekommen eben das, was da ausgemustert wird. Sibirien – das ist für Moskau noch immer irgendwo da ganz hinten.
Manches, was sie sich in Moskau ausdenken, funktioniert hier nicht. Auf dem Großteil der Strecke in Sibirien gibt es kein Internet. Das heißt, dass die Fahrkartenscanner keine Updates bekommen. Dann kommt einer und sagt: Ich hab mir gerade online ein Ticket gekauft. Aber ich kann es nicht sehen auf meinem Gerät. Das gibt immer Probleme.“

„Ich bin jetzt zwei Wochen unterwegs – hin und zurück, danach kann ich mich mindestens eine Woche ausruhen. Ich verdiene ungefähr 35.000 Rubel (500 Euro). Davon kann ich leben, aber viel ist es nicht. Und seit zehn Jahren gab es keine Lohnerhöhung, oder sagen wir es so: Selbst wenn der Lohn wächst – die Lebensmittelpreise wachsen mit. Nächstes Jahr könnte ich in Rente gehen, aber ich würde nur 14.000 Rubel (200 Euro) monatlich bekommen. Wer kann davon leben? Ich mache deshalb mindestens bis 2020 weiter. Zumindest so lange, wie mein jüngster Sohn noch studiert. Da kann ich ihn unterstützen.
Zu Sowjetzeiten war das Leben einfacher, stabiler. Jetzt musst du überall bezahlen, ob für das Studium oder die Medizin. Die Krankenversorgung ist doch angeblich umsonst, aber wenn du zum Arzt gehst, schicken sie dich zu dieser und jener Untersuchung, und alles musst du bezahlen.
Jetzt will die Regierung auch noch das Rentenalter anheben. Wir Frauen sollen mit 63 und nicht mehr mit 55 Jahren in Rente gehen. Aber das Rentenalter sollte je nach Art der Arbeit unterschiedlich sein: Wer in Moskau im Büro sitzt, kann natürlich bis 63 arbeiten. Aber Jobs wie meiner, oder der eines Lokführers? Daran geht man mit der Zeit kaputt.“

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