Stalins Spur

Hätte uns Sascha nicht Bescheid gesagt, wir wären mit dem Motorboot wohl einfach vorbeigefahren an dieser Ansammlung von verfallenden Holzhütten am Ufer der Indigirka. Aber unserem Fahrer, Fischer und Mammutelfenbeinjäger war es wichtig, uns diesen Ort zu zeigen.
Diese Gegenden im Norden Russlands erinnern an Australien: Neben den Ur-Einwohnern (den Jakuten, Ewenken, Jukagiren usw.) sind die Vorfahren der meisten anderen Häftlinge aus der ganzen Sowjetunion oder den sozialistischen Nachbarländern, die nach der Auflösung der Lager nicht zurück in die Heimat durften und hier blieben. Der Gulag, das sowjetische Lagersystem, gehört für die meisten hier zur Biographie. Aber was sie darüber wissen, entstammt Büchern – denn in den Familien wurde nie über diese Zeit gesprochen.

Wie viele tausende Menschen wohl auf dem Boden dieser sibirischen Flüsse liegen, die jetzt so friedlich dahinfließen?

So auch Sascha, er erzählt uns vom Buch „Die schwarze Kerze“, das er Ende der 80er gelesen hat und das ihn offenbar bis heute beeindruckt. Dort wird von den sogenannten „Matrosen“ erzählt: Häftlinge, die im langen Winter starben, konnten wegen des gefrorenen Permafrostbodens nicht beerdigt werden, sondern wurden auf dem Fluss tiefgefroren gestapelt. Im Frühling dann schwammen diese „Matrosen“ auf den Eisschollen davon, bis sie vom Fluss verschluckt werden. Wie viele tausende Menschen wohl auf dem Boden dieser sibirischen Flüsse liegen, die jetzt so friedlich dahinfließen?
Kolja, der ebenfalls mit uns im Boot sitzt, sieht zwar aus wie ein echter Jakute, erzählt aber von seiner polnischen Großmutter, die wohl in den 40ern hier gelandet ist, entweder nach dem ersten Einmarsch der Sowjets 1939 oder nach dem Ende des Krieges. Genaueres weiß er nicht, wie gesagt: Die darunter gelitten hatten, sprachen selten darüber. Typen wie Kolja und Sascha, die gerne Zoten reißen, Enten erlegen und verdünnten Reinalkohol trinken, werden mit einem mal ernst, wenn sie davon erzählen.

Nun legen wir also an, stapfen durch den Ufermatsch, zwängen uns durch das inzwischen mannshohe Gestrüpp. Auf dem Weg zur ersten Hütte finden wir die ersten Anzeichen von Zivilisation: durchgerostete Blechnäpfe, Einzelteile von Generatoren, Sektflaschen.
Dann stehen wir vor dem ersten Haus und lesen, was auf dem verrosteten Schild steht: „Oschoginskaja-Grundschule“. Wir treten durch die rostige Tür. An den Wänden hängen noch vergilbte Ausschnitte der „Prawda“ von 1956, aus den Türrahmen quillt die Isolation – Fetzen von Rentierfell. Der Holzboden ist zum Großteil schon verfault, man sieht nackte Erde – und mittendrin den Abdruck einer Bärentatze. So sieht es aus, wenn die Zivilisation sich zurückzieht.

In Sibirien gibt es solche Orte zu hunderten, Orte wie Oschogino, ehemalige Bergarbeiterstädte, besonders im benachbarten Gebiet Magadan, die in den 90er Jahren komplett aufgegeben wurden, weil sich der Bergbau nicht mehr lohnte.
Wir gehen weiter den flach ansteigenden Hügel hinauf. Wo vor 70 Jahren Wege waren, wachsen jetzt Büsche und Sträucher. Noch ein weiteres halbes Jahrhundert, dann wird hier nichts mehr übrig sein außer ein paar verfaulten Brettern. Zu den Gefangenenbaracken ist schon jetzt kein Durchkommen mehr. Aber hier war wohl die Kantine, dort ein Verwaltungsgebäude, wo wir lederne Frauenstiefel finden. Das da drüben, meint Sascha, könnte die Post gewesen sein.

Aber warum überhaupt Frauen, warum eine Post, warum eine Schule im Lager? Erst später finde ich heraus, dass hier seit dem 17. Jahrhundert eine russische Siedlung existierte. Das Lager mit 1500 Häftlingen wurde erst 1951 eingerichtet und 1953 nach Stalins Tod wieder aufgelöst. Die Lagerinsassen mussten Bäume fällen und eine Straße bauen – von der heute nichts mehr übrig ist. Mit der Auflösung des Lagers war auch die Geschichte der Siedlung Oschogino besiegelt. Über das Lager lässt sich auch im Nachhinein kaum Genaueres herausfinden, auch nicht auf der Seite der Organisation „Memorial“, die sich der Aufarbeitung des GULAG verschrieben hat. Lager wie dieses hier gab es zu hunderten.

Sascha erzählt zudem, dass das Flugfeld von Oschogino ab 1941 dazu genutzt wurde, aus den USA Kriegsgerät in die Sowjetunion zu schaffen. Zur Erklärung: Über das Programm „lend-lease“ unterstützten die USA die Sowjetunion im Kampf gegen Hitler mit Panzern, Flugzeugen und Waffen. Und hier, so erzählt es zumindest Sascha, landeten die Transportflugzeuge auf ihrem Weg nach Westen zwischen.

Just in diesem Moment erscheint am östlichen Himmelsrand ein Flieger, steigt steil nach oben und hinterlässt einen langen Kondensstreifen. 2000 Kilometer Luftlinie sind es von hier bis Alaska, vielleicht ist es ein Interkontinentalflug nach Moskau aus den USA? Wir steigen zurück ins Boot. Sascha startet den Motor, und wir fahren weiter auf dem Fluss Indigirka. Eine Gruppe Schwäne steigt vor unserem Boot auf, mit ruhigem Flügelschlag fliegen sie davon. Als die letzten Ruinen der Holzhäuser verschwunden sind, ist die Idylle wieder perfekt.

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